Man sieht nur mit dem Herzen gut...
Es war im August 1995, als die vierköpfige Familie in ein neues, aus roten Steinen gebautes, dreietagiges und selbst eingerichtetes Einfamilienhaus einzog. In diesem Haus steckte sehr viel Arbeit, Zeit und auch Geduld der Eltern. Viele Leute fragten sich, warum ein Ehepaar mit einer solch schlechten Ehe gemeinsam ein Haus baute. Der Grund dafür war, dass das besagte Ehepaar gedacht hat, dass es ein Haus für sie und die Kinder werden kann, ein Haus, nicht einfach nur aus Stein, ein Haus, in dem sie gerne wohnen und leben werden, an dem sie Freude haben und auf das sie vielleicht auch ein bisschen stolz sind, ein Haus, in dem die Kinder Platz haben und einen Garten zum Spielen, kurz ein zu Hause, in dem sie alle zusammen glücklich sein könnten.
Doch, es war der Mutter schon vor dem Einzug in das Haus, nicht einfach nur aus Stein, bewusst, dass dies nicht funktionieren konnte und auch nicht funktionieren würde. Es kam anders...
Es ist viel geschehen in der Zeit, in der die Familie in diesem Haus gewohnt hat. Die Probleme wurden immer größer, die Ehe immer schlechter, die Alkoholprobleme und Gewaltausbrüche des Vaters immer öfter, heftiger und brutaler. Manchmal sah sich die Mutter der Familie gezwungen, die Polizei zu rufen, doch diese glaubte ihr meist nicht. Deswegen wartete sie bis ihre Kinder abends eingeschlafen waren und machte sich dann die Nacht über aus dem Staub, um der Brutalität ihres Mannes zu entkommen. Jedoch kam sie nie besonders weit, denn sie war zu Fuß unterwegs, weil ihr Mann die Autoschlüssel versteckte. Schließlich entschloss sich die Mutter, drei Jahre nachdem sie und ihre Familie im Haus eingezogen waren, mit ihren Kindern zu ihrer Mutter zu ziehen und dem Ganzen ein Ende zu setzen. Sie hatte es satt, sich morgens aus dem Haus schleichen zu müssen, sich von ihrem Mann herumkommandieren und schlagen zu lassen, nachts verschwinden zu müssen. Sie hatte es satt in ständiger Angst vor ihrem Mann und dem, was als nächstes mit ihr geschehen würde, zu leben. Sie wollte raus aus dieser Hölle, aus diesem Haus, in dem voller Erinnerungen steckten. Sie wollte weg von ihrem Mann, weg von diesem Monster.
Jahre nach dem Auszug hatte sie es geschafft ! Die Mutter zweier Kinder, welche mittlerweile schon erwachsen und ausgezogen waren, hatte sich ein neues Leben aufgebaut. Sie war nun von ihrem Mann geschieden und genoss ihr Leben in vollen Zügen. Sie beschloss ihre Wohnung zu renovieren und mal ordentlich aufzuräumen. Da fiel ihr plötzlich ein Brief ihres geschiedenen Mannes in die Hände. In diesem stand, dass sie beide ihre Sorgen und Nöte hatten, es aber nicht geschafft haben sie gemeinsam zu tragen, weil jeder von ihnen irgendwo nur für sich gelebt hat und letztlich mit all diesen Sorgen und Nöten allein geblieben ist, trotz aller Bemühungen zu helfen und trotz aller Zeichen, dass er Hilfe braucht. Sie haben ihre Beziehung, ihre kleine Familie mit zu vielen und zu oft enttäuschten Erwartungen überhäuft. Sie haben sich mit anderen Dingen abgelenkt, getröstet und regelrecht betäubt; immer gab es irgendwas, was wichtiger und bedeutender war. Sie haben vergessen, sich ihre positiven Gefühle füreinander zu bewahren, sie lagen irgendwo in einer dunklen Ecke tief in ihrem Innersten, begraben von all den anderen wichtigen und bedeutenden Dingen, von den zu oft enttäuschten Erwartungen und Hoffnungen; sie haben sie in sich selber nicht mehr gestärkt und sich gegenseitig nicht mehr oder nur noch flüchtig und oberflächlich zum Ausdruck gebracht. All die Liebe, die gegenseitige Achtung, der Stolz, die Freude und die Dankbarkeit mit dem Anderen zusammen sein zu dürfen und vor allem das gegenseitige Vertrauen sind so aus ihrem Bewusstsein verschwunden. Sie konnten und wollten nicht unterscheiden, welche Dinge wirklich wichtig sind und welche nicht, worüber sie streiten müssen und worüber es sich nicht zu streiten lohnt, sie haben sich aus unwichtigen Anlässen gegenseitig Aggressionen an den Kopf geworfen, sich gekränkt, verletzt und gedemütigt und sie haben es manchmal nicht mal gemerkt. Sie haben es nicht geschafft, dieses Haus aus Stein mit Leben und Liebe zu erfüllen, daraus ein wirkliches zu Hause zu machen. Es endete mit einer Katastrophe...
Als sie den Brief gelesen hatte, legte sie ihn beiseite und kam weiter ihrer Arbeit nach. Doch dann hielt sie plötzlich einen Moment lang inne. Sie bemerkte, dass ihr eine Träne über die Wange lief, denn ihr wurde bewusst, dass ihr geschiedener Mann sie über Jahre hinweg um ihre Liebe betrogen hatte. Sie spürte nun auf einmal wieder diesen Schmerz, der sie jahrelang durch ihre Ehe begleitet hatte. Und ihr wurde bewusst, dass sie diesen Schmerz, den sie glaubte überwunden zu haben, nicht einfach so hinter sich lassen konnte.
Dann fiel ihr plötzlich der Baum, zu dem sie nachts, wenn ihr Mann sie wieder einmal verprügelt hatte, immer geflohen war, in den Sinn. Dort hatte sie stundenlang gesessen und über sich und ihr Leben nachgedacht. Hier hatte sie sich immer gefragt, was sie denn nur falsch gemacht hatte. Dies war der einzige Ort, an dem sie mal nicht über ihren Mann nachgedacht hatte und an dem sie mal keine Angst vor ihm hatte. Und sie hatte sich damals geschworen, dass wenn ihr Mann sich diesem Ort nur näherte, würde sie sich vollkommen vergessen und für nichts mehr garantieren. Deswegen schnitzte sie folgenden Spruch in den Baum: „Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan.“ In der gleichen Sekunde dachte ihr Ex-Mann an den Baum zu dem er am nächsten Morgen immer ging, wenn er sich wieder einmal vergessen und seine Frau geschlagen hatte. Er wusste nicht warum er gerade zu diesem Baum ging. Doch Außenstehende konnten sofort erkennen, dass es, ohne das die beiden es wussten, der gleiche Baum war, zu dem seine Frau immer ging. Über Jahre hinweg waren sich die beiden näher und ähnlicher, als sie glaubten, es jemals sein zu können...